Würzburg – Armut entfaltet eine eigene Dynamik: Sie geht einher mit materiellem Verzicht, oft auch mit emotionalen Problemen und nicht selten mit Entwürdigung. Seit 120 Jahren kümmere sich die Bahnhofsmission Würzburg um Menschen, die dieses Schicksal erleiden, schreibt die Einrichtung in einer Pressemitteilung.
Am Freitagnachmittag, 20. September, wurde das Jubiläum mit einem Festakt im Würzburger Ratssaal gefeiert. Das Motto des Jubiläumsjahrs lautet „Zuversicht geben“. Die Bahnhofsmission helfe ohne Vorbedingungen und Erfolgsdruck, sagte Leiter Michael Lindner-Jung. Das Besondere der ökumenischen Anlaufstelle sei, dass sie niemanden abweise, selbst solche Menschen nicht, die als „Störenfriede“ wahrgenommen werden. Das Team habe erkannt, dass gerade jene, die als „herausfordernd“ gelten, ein offenes Ohr, Zuversicht und Zuwendung benötigten.
Mehr als 45.000 Mal wurde die Bahnhofsmission im Jahr 2018 kontaktiert. Viele der Gäste seien anders aufgrund von seelischer Not, materieller Bedürftigkeit und Unsicherheit. Doch kein Mensch, so sehr er auch von der gesellschaftlichen Norm abweiche, solle und dürfe auf der Strecke bleiben, appellierte Domkapitular Clemens Bieber, Vorsitzender des Diözesan-Caritasverbands Würzburg. Dafür setzten sich die beiden christlichen Kirchen seit vielen Jahren in der Christophorus-Gesellschaft ein, zu der die Bahnhofsmission heute gehört.
Viele Menschen wurden und werden bei der Bahnhofsmission aktiv, weil sie spürten, dass es in einer Stadt solche Orte der bedingungslosen Solidarität unabdingbar brauche. „Wir brauchen eine Stadtgesellschaft, die alle Menschen mitnimmt“, betonte Oberbürgermeister Christian Schuchardt. Die Bahnhofsmission sei in Zeiten, wo sich die Gesellschaft immer weiter ausdifferenziere und die Einsamkeit wachse, mindestens so wichtig wie in der Anfangszeit vor 120 Jahren. „Von Staat und Stadt könnte das, was die Bahnhofsmission leistet, in dieser Form gar nicht erbracht werden.“
Wie es ist, arm zu sein, berichtete Anja Dyes, die zu den regelmäßigen Gästen der Bahnhofsmission gehört. Armut bedeute in vielen Fällen, die eigene Würde und die Souveränität über das eigene Leben zu verlieren. Nicht selten würden arme Menschen bevormundet und sprichwörtlich „abgespeist“: Sie müssten essen, was man ihnen zu essen gibt. Dürften nicht, was für alle anderen Menschen in der Gesellschaft selbstverständlich sei, frei wählen. Oft begegneten ihnen Herablassung und Verachtung.
„Man ist der Meinung, der arme Mensch sei selbst schuld an seiner Armut.“ Dabei genüge ein Unfall, der tragische Tod eines geliebten Menschen, eine schwere seelische oder körperliche Erkrankung, um einen Prozess einzuleiten, an dessen Ende – oft sehr rasch – die Armut stehe. „So vieles kann aus der Bahn werfen“, sagte Dyes aus eigener Erfahrung. Die Menschen, die in der Bahnhofsmission tätig seien, kümmerten sich ohne Herablassung und ohne Schuldzuweisung um jene, die das Schicksal gebeutelt habe. Sie sei damit ein „wichtiger, guter Beitrag“ zu einer solidarischen Gesellschaft, betonte Dyes.
Neben Caritas und Diakonie trügen in Würzburg viele Menschen, Organisationen und Unternehmen dazu bei, dass die Bahnhofsmission gute Arbeit leisten kann. Die Deutsche Bahn beispielsweise stelle die Räumlichkeiten kostenfrei zur Verfügung und übernehme Instandsetzungsleistungen und Betriebskosten. Auch hier werde die Bahnhofsmission als etwas Einmaliges angesehen, sagte Karl Heinz Ferstl vom Regionalbereich Süd der DB. „Seit mehr als 20 Jahren erlebe ich hier eine Stimmung und eine Herzlichkeit, die ihresgleichen sucht.“
Durch Künstliche Intelligenz und Biotechnologie ticke aktuell eine Zeitbombe, die Einrichtungen wie die Bahnhofsmission in Zukunft notwendiger denn je werden lasse, erklärte Frank Dieckbreder, Experte für Sozialraumentwicklung an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Mehr und mehr Menschen drohten, gesellschaftlich „nutzlos“ zu werden. Nutzlos zu sein sei noch viel schlimmer als ausgebeutet zu werden. „Bin ich nutzlos, verliere ich den Sinn meiner Existenz.“ Gerade für jene Menschen, denen die Gesellschaft keinen Nutzen mehr zuschreibe, sei das Motto „Zuversicht geben“ ungemein wichtig. Die Bahnhofsmission biete einen Raum, in dem sie Hilfe erfahren, in dem sie sich aber auch selbst einbringen können. Er habe das in der Bahnhofsmission Hamm erlebt, die seine Frau leitete, sagte Dieckbreder.
In der Bahnhofsmission treffe die Millionärin mit dem Bedürfnis, sich sozial zu engagieren, auf den Kleindealer, der Sozialstunden ableisten müsse, und den Alkoholiker, der sich hier einbringe, weil er dann keinen Druck habe zu trinken. Dadurch werde die Bahnhofsmission zu einem sozialen Raum, der vielfältige Kontakte und Verbindungen ermögliche. Dass bei der Bahnhofsmission nichts nach „Schema F“ funktioniert, verdeutlichten die Akteure des Improvisationstheaters „Beutelboxer“. Mit dem Symphonischen Blasorchester Unterpleichfeld unter Leitung von Manuel Scheuring klang der Festakt aus.
Bild: Bahnhofsmission Würzburg feiert 120-jähriges Bestehen (Grafik: Bahnhofsmission Würzburg)