Würzburg – Auch in der Spielzeit 2015/2016 stellt das Mainfranken Theater Würzburg die aufzuführenden Werke in einen Kontext wechselseitiger Erhellung. Wie in den vergangenen Jahren wurde auch dieses Mal versucht, die Gegenwart durch einen kennzeichnenden Begriff, ein Phänomen oder ein Strukturmoment „auf einen Begriff zu bringen“.
Nachdem das Würzburger Dreispartenhaus in der Spielzeit 2013/2014 die MachtSpiele als ein bestimmendes Element und Movens unserer Gesellschaft untersuchte, folgte mit Geld und Götzen eine Analyse und Wertedebatte. In der laufenden Spielzeit setzt das Theater auf historische Daten: den Ausbruch des Ersten und Zweiten Weltkriegs vor einhundert bzw. fünfundsiebzig Jahren (1914/1939/2014) sowie die Zerstörung und die Befreiung der Stadt Würzburg (1945/2015).
Dass dies nicht ein bloßer Blick in die Historie ist und dass Krieg und Frieden auch in anderen Strukturen und Mechanismen unserer Gesellschaft Alltag sind, zeigte in der vergangenen Woche die jüngste Schauspielpremiere anhand des Themas Kindesmissbrauch.
Seine letzte Spielzeit am Mainfranken Theater stellt Intendant Hermann Schneider unter das Motto Angstfrei. Angst – ein Wort, so deutsch, dass der Begriff ein angloamerikanisches Lehnwort geworden ist: „The german angst“ definiert oder ironisiert ein Lebensgefühl, das scheinbar typisch für die Mentalitätsgeschichte unserer Nation, unserer Kultur ist – von Goethes Faust über die Romantik, die Analyse als kulturstiftende Kraft des Unbewussten um 1900 und das ganze 20. Jahrhundert hindurch bis zur Zukunftsangst der Friedens- und Umweltbewegung, der man auch ein schönes Symbolwort, das heute schon vergessene „Waldsterben“ verdankt.
Angst als Existenzerfahrung wird interessanterweise in den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts als gesellschaftliches Phänomen greifbar. In jenen Jahren des unglaublichen wirtschaftlichen Aufschwungs nach 1870/1871 entstanden die Versicherungsgesellschaften. Man glaubte sich vor allem schützen zu müssen, hatte vor Unwettern und Krankheit, Arbeitslosigkeit und Tod, Diebstahl und Naturkatastrophen Angst und wollte sich diese oder deren Auswirkung – also das Leben selbst – vom Leibe halten.
In einer solchen Versicherungsgesellschaft arbeitete Franz Kafka. Der große, mystische und lustige Analytiker der Existenz und seiner Krisen in der Moderne ist sozusagen der imaginäre Schirmherr der Spielzeit 2015/2016 des Mainfranken Theaters Würzburg.
Warum aber ist dieses Thema virulent? Nachdem die Institutionen von Familie, Kirche und Staat ausgedient haben, ist das Grundvertrauen in eben diese verschwunden. Hegel formulierte noch, dass es die vornehme Pflicht des Staates sei, „das Tier der bürgerlichen Gesellschaft zu zähmen“. Diese Zeiten sind längst vorbei: Entfesselter, globalisierter Kapitalismus, eine unumkehrbar scheinende Umweltzerstörung globalen Ausmaßes (Ozon, Klimaerwärmung), die Unübersichtlichkeit politischer Wert- und Weltordnungssysteme, der „clash of civilization“, der längst in eine „civilization of clashes“ mündete.
Der grundsätzliche Verlust von Vertrauen und Identität höhlen das Selbstbewusstsein des Einzelnen sowie ganzer Gesellschaften aus. Dies wiederum führt in einem circulus virtuosus zu neuen Krisen und Verlusten in einer sich beschleunigenden Art und Weise, dass deren Grundbewegung negativer Erfahrung zu dem einzig verbliebenen Kontinuum und Signifikat unserer Zeit geworden scheint.
Der Soziologe Heinz Bude hat das in seinem vor kurzem erschienenen Sachbuch „Gesellschaft der Angst“ eindrücklich diagnostiziert: Die Angst ökonomisch, gesellschaftlich, grundsätzlich zu versagen, prägt die heutige Zeit, insbesondere die mittlere Generation. Diese Generation wird besonders „geängstigt“ vor und von einem trügerischen sozialen Frieden.
Und wie in Kafkas grandioser Kurzprosa Auf der Galerie, wo dem immer wirbelnderen, unkontrollierbaren Leben zugeschaut wird, wünscht man manchmal, dass „ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab(eilt), in die Manege stürzte, riefe das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.“ Die Utopie der Freiheit, die Zeit, die Epoche anzuhalten, kann im Theater gelebt werden, ja soll ebengerade da gezeigt und gespielt werden.
Und so zeigt das Mainfranken Theater Würzburg in allen Genres und Sparten Spielarten und Varianten der Angst (vor der Obrigkeit, vor dem Anderen, vor sich, vor dem Gefühl, vor dem Tod) und versucht dennoch auch deren Überwindung zu beschreiben.
Die Spielzeit 2015/2016 thematisiert damit mehr als ein aktuelles Lebensgefühl: Denn dieses hat seine Wurzeln in einer selbst entwurzelten Welt der Moderne. Insofern wird versucht, eine universelle Erfahrung anhand von Werken aus der Literatur-, Theater- und Musikgeschichte zu thematisieren und dadurch mit den Besuchern, den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in einen Dialog zu kommen.
Bild: Generalmusikdirektor Enrico Calesso, Ballettdirektorin Anna Vita, Intendant Hermann Schneider und Nele Neitzke, Leiterin des Jungen Theaters, bei der Vorstellung der Spielzeit 2015/2016 (v. li. n. re.). (Foto: Mainfranken Theater)