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„Raus aus der Leistungsfalle“

Würzburg – Die Zahlen sind erschreckend: 2,3 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind psychisch krank. Zehn Prozent sind akut behandlungsbedürftig. „In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden wir überrannt von Kindern und Jugendlichen, die wir notfallmäßig aufnehmen müssen“, berichtete der langjährige Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg, Professor Dr. Andreas Warnke, beim Frühjahrstreffen des Diözesanfamilienrats am vergangenen Wochenende, in Würzburg.

Die Forderung des Gremiums war deutlich: „Raus aus der Leistungsfalle: Kinder stärken in Familie und Schule“.

In der heutigen Wissensgesellschaft müsse jeder flexibel, mobil und lernbereit sein, analysierte Warnke in seinem Vortrag. Bildung diene allein der Berufsfähigkeit. „Der ideale Mensch heute ist jung, unternehmerisch, technisch fit, in der 20er Jahren sowie partner- und bindungslos.“ Informationsflut, Wertevielfalt, Globalisierung, Mobilität, die virtuelle Welt, die individuelle Zeit, aber auch Armut erzeugten Stress. Jeder könne heute in eine psychische Notlage kommen. Die psychische Belastung nehme zu. Allein in Unterfranken waren nach den Worten Warnkes im Jahr 2010 über 10.500 erwachsene Patienten stationär in psychischer Behandlung. Das sei keine abstrakte Statistik. „Patienten der Psychiatrie sind Verwandte, Freunde, Bekannte.“

Warnke machte vor diesem Hintergrund deutlich, dass es über die Kräfte der Eltern hinausgehe, zu verhindern, dass Kinder in die Leistungsfalle gerieten. „Wir haben nicht alles in der Hand.“ Wichtig sei, Widerstandskräfte in den Kindern aufzubauen und Familien zu stärken. Schutzfaktoren in den Familien sind nach den Worten Warnkes stabile emotional-positive Beziehungen zu und Bindungen an Bezugspersonen, Zusammenhalt sowie die Erfahrung von Sinn und Lebenswerten, eine Gewissheit im religiösen Glauben. Die Kirche habe beispielsweise beim Bau von Kinderkrippen „die großartige Chance“, dort auch Raum für den Glauben zu schaffen. Die Entwicklung des Kinderwohls habe eine Chance, wenn die Kinder eine andauernde Bindungschance erhielten. „Kinder stärken heißt: die Risiken erkennen und vermindern oder beheben.“ Es sei wichtig, auch beim Scheitern die Erfahrung zu machen, dass das Leben einen Sinn hat.

Hinsichtlich des Kinder- und Familienwohls gab es nach Angaben Warnkes in den vergangenen Jahrzehnten deutliche Veränderungen. Immer größer werde die Zahl der Alleinerziehenden. Über zwei Millionen Kinder seien laut Statistik davon betroffen, knapp ein Fünftel aller Familien. Über 90 Prozent der Alleinerziehenden seien Frauen, viele seien zusätzlich berufstätig, verdienten aber weniger. Nach den Worten von Michael Kroschewski, Vorsitzender des Familienbunds der Katholiken (FDK) im Bistum Würzburg, sind im Durchschnitt Kinder aus Scheidungsfamilien und Alleinerziehenden-Familien benachteiligt – insbesondere auch durch die im Durchschnitt prekäre wirtschaftliche Situation. „Alleinerziehend zu sein ist das größte Armutsrisiko in Deutschland“, bedauerte der FDK-Vorsitzende.

Um Kinder in der Schule zu stärken sei der Schutz vor Gewalt wichtig, unterstrich Warnke. An Schulen ohne Wertesystem, ohne klare Regeln und mit mangelnder Identifikation sei die Gewalt am höchsten. „Wir müssen auf die Kinder aufpassen, die keinen Freund haben“, sagte Warnke weiter. Bei der Werteorientierung Jugendlicher stünden Freunde mittlerweile an erster Stelle vor der Familie. „Gott ist hier abgestürzt.“ Kritik übte Warnke an Medien, die psychisch kranke Kinder zur Unterhaltung missbrauchten. „Suchen Sie mal nach Werbung, die für Kinder wirbt. Eine Minute Werbung für Kinder vor den 20 Uhr-Nachrichten: Das wäre es!“, forderte Warnke.

Der Familienbund stellt sich der Aufgabe der Stärkung von Kindern und Familien. Nach den Worten Kroschewskis reagiert der Verband mit qualitativen Angeboten von Elternbildung und Familienerholung – aber auch mit engagierter Lobbyarbeit für Familien: „In Familien stehen zum Teil leider nicht Freude und Stolz im Zentrum, sondern der Druck: finanzieller Druck, der Druck viele übergroße Erwartungen perfekt befriedigen zu müssen, Erwartungen aus der Wirtschaft, den Schulen, den Medien und vielem mehr. All das ist ein gesellschaftliches und politisches Thema, das unser Mitdenken, ja unseren lauten Widerspruch erfordert.“ Außerdem engagiere sich der Familienbund unter anderem auf dem Klageweg für Gerechtigkeit gegenüber Familien in den Sozialversicherungen und damit für mehr wirtschaftliche Sicherheit für Familien.

In mehreren Workshops vertieften die Delegierten und Gäste das Thema. Unter dem Titel „Bleib cool! – Kinder in der Pubertät“ berichtete Julia Kretz-Franz über unterschiedliche Leistungsansprüche von Eltern und Kindern. Claudia Nowak stellte die Diskussionsforen Familienrat und Klassenrat vor. Um leistungsfreie Zonen in Schulen, Kitas und Pfarreien drehte sich das Angebot von Katharina Sauer und Barbara Schielke. Außerdem konnten die Teilnehmer mit der SPD-Landtagsabgeordneten Kathi Petersen diskutieren. Dieter Müller erklärte, wie Eltern-Lehrer-Gespräche positiv gestaltet werden können. Abschließend feierte Diözesanfamilienseelsorger Domvikar Stephan Hartmann mit den Teilnehmern eine heilige Messe.


Bild: ‚Raus aus der Leistungsfalle‘ forderte der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiater Professor Dr. Andreas Warnke bei der Frühjahrsversammlung des Diözesanfamilienrats in Würzburg. (Foto: Bernhard Schweßinger / POW)

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