Würzburg – „Ich liebe meine kleine Tochter“, sagt der großgewachsene Punk mit den schwarzen Stahlkappenstiefeln. „Ich darf sie seit Wochen nicht sehen“. Die Kälte kriecht ihm an diesem nasskalten Wintertag unerbittlich in die Glieder. Die Kapuze hängt so tief im Gesicht, dass man kaum das fahle Gesicht und den getrübten Blick bemerkt.
Schneereste quietschen unter den Sohlen der vielen Menschen, die mit jeder Ampelwelle auf den Würzburger Bahnhofsvorplatz gespült werden. Inmitten der vorbeihastenden Masse steht der Punk auf dem unebenen Bürgersteig und starrt ins Leere. Ihm gegenüber Streetworker Stefan Müller. „Es kostet dich einen Anruf beim Jugendamt und du kannst deine Kleine sehen – unter Aufsicht. Hab‘ ich dir letzte Woche schon gesagt“. „Bist du bescheuert?“, fragt der Punk entgeistert. „Ja klar, so wie wir alle hier“, antwortet Müller abgeklärt. Ruhig und beharrlich überredet er den jungen Vater nach zehnminütigem Hin und Her, gemeinsam am nächsten Vormittag beim Amt anzurufen. „Morgen 10.30 Uhr. Ich werde da sein. Du auch?“, fragt der diplomierte Pädagoge, reißt einen Papierfetzen aus seinem Terminkalender und gibt dem Punk die Notiz mit Uhrzeit und Treffpunkt. Der knüllt den Zettel in die Jackentasche. „Wo schläfst du heute überhaupt?“, fragt Müller. „Keine Ahnung, wo ich penn‘“, antwortet der Punk gleichgültig. Sekunden später ist er in der Masse verschwunden.
Bahnhofsviertel das zweite Büro
Müller zieht weiter. Seit Juli 2004 ist das Würzburger Bahnhofsviertel das zweite Büro des 36-jährigen Unterfranken mit den blonden Haaren, die er lose zum Zopf geknotet hat. Montag bis Freitag ist er mit seiner Kollegin dort nachmittags unterwegs, einmal die Woche auch in der Innenstadt. Kontakte mit jungen Menschen knüpfen, die ihm auffallen, Beziehungen pflegen oder einfach nur zuhören – seit 1996 arbeitet Streetwork Würzburg, heute in Trägerschaft des Diakonischen Werks Würzburg e. V., nach diesen Prinzipien. „Es ist ein herausforderndes und spannendes Arbeitsgebiet“, sagt der gebürtige Volkacher über die Straßensozialarbeit. „Ich kann konkret etwas bewirken, sei es im Gespräch oder beim Behördengang mit einem Klienten“. Wenn der Familienvater abends nach Schweinfurt nach Hause fährt, könne er sagen: „Ich habe etwas geschafft“. Gleichzeitig helfe ihm die Fahrt, Abstand zu gewinnen. Privat hat er keinen Kontakt zu seinen Klienten. „Nur in Ausnahmefällen gebe ich ihnen meine Nummer. Das gilt dann für ein bis zwei Wochen, danach wird die Nummer gelöscht. Da halten sich auch alle dran. Die Vertrauensbasis ist das Pfund, mit dem wir arbeiten“.
Vertrauen hat auch die 18-jährige Marina: „Die Streetworker haben mir über die Jahre sehr geholfen, Infos vermittelt und mich an Termine erinnert. Sie haben schon so eine Art Elternrolle für mich eingenommen“, sagt die zierliche junge Frau mit dem Unterlippenpiercing. Jahrelang lebte sie im Heim, momentan ist sie als Ausbildungs- und Arbeitssuchende gemeldet und wohnt bei einer Freundin. Fast täglich treffen sich Marina und andere junge Menschen in der „Anlaufstelle Underground“, dem Treffpunkt von Streetwork Würzburg für junge Menschen bis 27 Jahre. 2001 eröffnet, liegen die Räume – unscheinbar und auf den ersten Blick leicht zu übersehen – im Kellerareal einer alten Lagerhalle unweit des Hauptbahnhofs. Im Eingangsbereich sind die zwei Regeln des Treffpunkts verewigt: „Keine Drogen, keine Gewalt“. Die drei Aufenthaltsräume, jeder kaum größer als 20 Quadratmeter, werden dürftig mit Gasöfen beheizt. Montag bis Samstag haben die jungen Besucher täglich zwei Stunden die Möglichkeit zu essen, zu duschen oder Wäsche zu waschen. Viele wollen auch einfach nur mit ihren Freunden quatschen oder mit den ehrenamtlichen Betreuern – überwiegend Studenten sozialer Fachrichtungen – über ihre Probleme sprechen.
Der Abendhimmel färbt sich tiefblau. Vor der Bahnhofshalle trifft Streetworker Müller an diesem frostigen Tag niemanden. Das Licht der Straßenlaternen schimmert kühl. Bei der Bahnhofsmission fragt Müller nach, ob junge Leute da waren, um die sich die Straßensozialarbeiter kümmern sollten. Der Mann mit der blauen Bahnhofsmissions-Weste beschreibt einen jungen Mann: „Den kennst du noch, oder?“, fragt er. „Ja klar“, antwortet Müller. „Der ist wieder zurück, hat nicht geklappt mit seinem Abenteuer“. Die ersten Sterne funkeln am Himmel. Der Pendler-Strom zieht unermüdlich Richtung Bahngleise. In einem Imbissladen spricht Müller kurz mit einem älteren Mann und beobachtet nebenbei eine Gruppe Jugendlicher am wild-blinkenden Spielautomaten. „Wenn der eine Junge morgen wieder da ist, spreche ich ihn mal an“. In den Wartehäuschen am Busbahnhof trifft Müller niemanden, ebenso wenig bei der Postfiliale, deren beheizter Eingangsbereich die behagliche Wärme spendet, nach der man sich bei diesen widrigen Temperaturen sehnt. Wieder raus in die Kälte, zurück zum Imbiss. Müller sieht ein paar Jugendliche, darunter zwei ehemalige Klienten. „Na, wie läuft‘s?“. „Hab zum Glück Feierabend“, sagt der eine reibt sich seine kalten Hände. „Ich kaufe jetzt noch ein Geschenk für meine Freundin“, sagt der andere mit der runden Brille. Sein Atem steigt in weißen Wolken auf.
„Man merkt, dass die Klienten in den Wintermonaten sensibler sind als sonst“
„Man merkt, dass die Klienten in den Wintermonaten sensibler sind als sonst“, sagt Müller. „Sie machen sich Gedanken, wie es weitergehen soll“.“ Situationen, die ihnen ausweglos erscheinen, kennen viele von ihnen. „Was mich dabei in Rage bringt ist, dass es immer Leute betrifft, die durch die gängigen Strukturen fallen“. Ob bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einem behördlichen Ansprechpartner – Müller sieht oft die Tendenz, dass die Zuständigkeiten zwischen den Ämtern hin- und hergeschoben werden. Die Streetworker müssten aber auch den bestehenden Hilfesystemen vertrauen: „Wir sind nicht die Feuerwehr der Sozialarbeit“. Das Weihnachtsfest ist für viele Klienten besonders schwierig. „Einige blocken ab und sagen ‚Weihnachten kann mir gestohlen bleiben‘. Aber es bleibt ein Bezugspunkt. Viele fangen an zu grübeln. Für uns ist wichtig, dass man so etwas auffängt“, sagt Müller. Das „Underground“ hat darum auch an Heiligabend für drei Stunden geöffnet. „Weihnachten verbringen wir ganz klassisch und gemütlich. Wir kaufen einen Baum, schmücken ihn und zünden Kerzen an“. Dazu bekommen die etwa 20 jungen Männer und Frauen Essen, reichlich selbstgebackene Plätzchen und Geschenke, die Unternehmen und Privatpersonen gespendet haben.
An diesem kalten Winterabend sind bis auf den verzweifelten Kindsvater alle Gesprächspartner ausgesprochen friedlich. „Gestern erst ging es hoch her am Bahnhof“, sagt Streetworker Müller. „Da kam Polizei, weil jemand sich durch schnorrende junge Menschen belästigt fühlte. Als dann auch noch die Mutter eines der jungen Männer kam und ihrem Unmut freien Lauf ließ, drohte die Lage kurz zu eskalieren“. Müller verabschiedet sich per Handschlag von dem jungen Mann mit der runden Brille, der lächelt und noch hinterher ruft: „Danke fürs Zuhören!“.