Würzburg – Kunst muss nicht schön sein. Kunst soll zu Diskussionen anregen und offenbart subtile Ästhetik vielleicht erst beim dritten oder vierten Blick. Als Klaudia Dietewich eines Tages mit dem Rad unterwegs war, fielen ihr auf der Straße zum ersten Mal Spuren im Asphalt auf. Spuren, über die man achtlos hinweggeht.
Doch diese Spuren sind Spuren des Lebens und erzählen Geschichte: „Menschen hinterlassen auf der Straße beabsichtigt oder unbeabsichtigt Zeichen, Graffiti, Kritzeleien, Asphaltausbesserungen, Markierungen, Reifenabriebe, Farb- und Kaugummireste, Öllachen, Risse und Löcher“, erklärt sie. Obwohl diese Spuren komplett ungegenständlich sind, erzeugen sie Bilder in uns, wecken Erinnerungen und Assoziationen.
Für die Künstlerin sind die „Wegstücke“ Zeichen menschlichen Handelns und Sinnbilder für die Vielfalt und die Vergänglichkeit des Lebens. Im banalen Alltag entstandene Relikte werden durch den Blick der Kamera dokumentiert und damit zeitlich und geografisch fixiert. Hintergrund der Fotostrecke ist das Wissen, dass Städte die Anker und die Garanten von Kultur und Zivilisation sind. Wer Städte zerstört, vernichtet Kultur und löscht Erinnerungen aus. „Als Kondensat des Lebens stellen die Wegstücke die Frage: Was bleibt von uns und der Welt, wie wir sie kennen?“, fragt Dietewich.
Dietewichs Kunstprojekt drängt sich damit fast für eine Ausstellung der Mayors for Peace auf. „Mayors for Peace“ ist ein internationales Netzwerk von Städten, die sich 1982 auf Initiative des damaligen Bürgermeisters von Hiroshima gegründet hat. Aus der Überzeugung heraus, dass Bürgermeister für die Sicherheit und das Leben ihrer Bürger verantwortlich sind, versuchen die Mayors for Peace, die weltweite Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Eine der nachdrücklichen Forderungen der Mayors for Peace ist: „Städte sind keine Zielscheiben.“ Der Oberbürgermeister der Stadt Würzburg ist Mitglied dieses Zusammenschlusses.
Oberbürgermeister Christian Schuchardt eröffnete die Ausstellung „50 cities – 50 traces“ mit 50 Wegstücken von Klaudia Dietewich im Würzburger Rathaus, die hier noch bis 27. August zu sehen ist. „Eine Welt ohne Atomwaffen – von diesem Ziel sind wir heute weiter entfernt als 2003, als die Mayors for Peace die Abschaffung aller Atomwaffen bis 2020 forderten. In den vergangenen Jahren ist überwunden geglaubtes Lagerdenken wieder aufgelebt, die großen Mächte sind wieder zunehmend auf Konfrontationskurs gegangen, und so droht heute ein neues, auch nukleares Wettrüsten“, warnte er. „Die Atomkriegsuhr steht auf zwei Minuten vor 12, wie zuletzt 1953, als der Koreakrieg tobte.“ Oberbürgermeister und Stadtrat Würzburg hielten es, so Schuchardt weiter, für unverantwortlich, angesichts der existenziellen Bedrohung und der Besorgnis erregenden aktuellen Entwicklung untätig zu bleiben.
Raimund Menges, Leiter des Projektbüros „50 cities – 50 traces“, betont, dass das Fotoprojekt ganz bewusst keine Kriegsspuren zeige, sondern einen anderen Weg gehe, um Vielfalt und Individualität herauszustellen. „Die Wegstücke sind eine Aufforderung, die Welt zu respektieren und zu bewahren. Sie zeigen, dass Städte und Straßen Lebensadern und Schauplätze sind, die Menschen verbinden, und sind getränkt von Erinnerungen.“ Parallel zur Ausstellung lassen sich die Aussagen von Mayors for Peace Bürgermeistern lesen.
Die 50 traces, die fotografierten und in einem speziellen Verfahren auf Aluminiumplatten gedruckten Bilder, sind seit 2018 auf Wanderausstellung in den Mayors for Peace Städten und werden im Jahr 2020 angesichts der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags in New York bei der UNO gezeigt. Für Würzburg wünscht sich Oberbürgermeister Christian Schuchardt viele Besucher der „nachdenkenswerten Ausstellung“. An allen Ausstellungsorten, so auch in Würzburg, werden Assoziationen der Besucher zu einzelnen Spuren gesucht. Diese werden gesammelt und werden am Ende in einem Buch veröffentlicht. Die Ausstellung ist bis 27. August zu sehen.
Bild (v.l.): Regierungsvizepräsident Jochen Lange, Raimund Menges (Projektleiter 50 cities – 50 traces), Künstlerin Klaudia Dietewich, Oberbürgermeister Christian Schuchardt, im Hintergrund die Würzburger Spur. (Foto: Claudia Lother)