Würzburg – Die Marienkapelle im Herzen der Stadt Würzburg erhält ein neues Geläut. Über 68 Jahre nach der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg werden am Mariä Himmelfahrtstag, 15. August 2013, erstmals wieder Glocken vom 70 Meter hohen Turm der Bürgerkirche erklingen.
Das Besondere daran: Täglich um zwölf Uhr mittags wird das fränkische Marienlied „O himmlische Frau Königin“ als Glockenspiel zu hören sein.
Die feierliche Weihe der sechs neuen Glocken findet am 1. Mai, dem Fest der Gottesmutter Maria, der Schutzfrau Bayerns, in der Marienkapelle statt. Bei einem Festgottesdienst um 10 Uhr, den das Bayerische Fernsehen live überträgt, spricht Generalvikar Karl Hillenbrand, Rektor der Marienkapelle, die Segensworte über die neuen Glocken. Bereits ab 29. April sind die Glocken im Chor der Marienkapelle aufgestellt.
Die Geburtsstunde der neuen Glocken reicht nur wenige Tage zurück. Freitagmittag, 12. April, in der Glockengießerei Perner in Passau: Einen kurzen Moment kehrt absolute Stille ein. Im Hochofen hat die geschmolzene Bronze – eine Legierung aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn – die notwendige Temperatur von über 1100 Grad erreicht. Die Maschinengeräusche verstummen. „Sobald die Temperatur erreicht ist, müssen wir gießen. Es ist nicht möglich, das Metall warten zu lassen“, sagt Firmenchef Glockengießermeister Rudolf Perner. „Fertig“, ruft er in die von Metalldunst und Hitze gesättigte Werkhalle. Dann nimmt er den Helm ab und lädt zum Gebet ein: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Der mit einer Gruppe ehrenamtlicher Helfer der Würzburger Marienkapelle angereiste Generalvikar Hillenbrand spricht das Segensgebet über das flüssige Metall: „Leite seine feurigen Ströme. – Segne auch die Menschen, die an diesem Guss beteiligt sind.“ Weitere Gebete sprechen eine Ordensschwester und ein rumänisch-orthodoxer Priester. Der Glockenguss an diesem Tag ist ökumenisch und international: sechs Glocken für die Marienkapelle in Würzburg, drei Glocken für ein neues Gotteshaus im afrikanischen Ruanda, drei Glocken für eine rumänisch-orthodoxe Kirche bei Bukarest und eine Glocke für die Pfarrei Weibersbrunn im Spessart.
Das abschließende „Vater unser“ mit „Gegrüßet seist Du, Maria“ ist kaum verklungen, und schon stechen Meister und Gesellen in silbern schimmernden Schutzanzügen den mächtigen Hochofen an. Rund zehn Tonnen Bronze fließen über ein ausgetüfteltes Kanalsystem in die im Boden vergrabenen Formen. Die neuen Glocken entstehen. „Der Glockengusstag ist für den ganzen Betrieb und für mich selbst ein besonderer Tag. In diesen Minuten entscheidet sich, ob die Glocken gut werden“, sagt Gießermeister Perner. Die Arbeit der vorausgehenden Wochen und Monate steht in diesem Moment auf dem Spiel: die Berechnung des Klangs der Glocken nach dem „Gießergeheimnis“, das Mauern des Kerns, die Umhüllung mit Lehm, letztlich die Schaffung der Formen der neuen Glocken. Das „Verfahren der verlorenen Form“ nennt sich dieses Vorgehen, das in der Passauer Glockengießerei seit Jahrhunderten gepflegt wird.
Punkt 13.15 Uhr ist an diesem Freitag – wegen des Todestags Jesu ist der Freitag der traditionelle Wochentag eines Glockengusses – die komplette Glockenspeise in den 13 Formen verschwunden. Die Zuschauergemeinde singt „Großer Gott, wir loben dich“ zum Dank. „Anstich, Temperatur, Probe – alles weist bestens auf einen erfolgreichen Guss hin. Die Formen haben sich sehr ruhig gefüllt. Ich erwarte mir ein schönes Ergebnis“, zieht Perner ein erstes erfreuliches Fazit. „Ich hoffe, dass etwas Bleibendes geschaffen wurde“, sagt Generalvikar Hillenbrand. Doch auch Wehmut liegt in der Luft. Die Glocken der Würzburger Marienkapelle werden mit zu den letzten aus der Gießerei Perner zählen. Denn schon in ein paar Monaten will die Firma nach mehr als 300 Jahren das Glockengießen beenden. Angesprochen auf das bevorstehende Ende der letzten Glockengießerei in Bayern, ringt Firmenchef Perner um Worte: „Was soll ich dazu sagen?“ Mehr ist ihm im Moment nach dem Guss nicht zu entlocken.
„Es ist schon aufregender und emotionaler, wenn man den Glockenguss erlebt, den man selbst mit vorbereitet hat“, sagt die Glockensachverständige der Diözese Würzburg, Katja M. Engert. Für die Marienkapelle gab es schon im Jahr 2003 Planungen für ein neues Geläut, die aber dann wieder verworfen wurden. Nahezu zehn Jahre später griffen die Verantwortlichen das Projekt wieder auf. Damit sich die sechs neuen Glocken für die Marienkapelle ins Gesamt der Würzburger Glockenlandschaft klanglich optimal einfügen, gab Engert vor, das neue Geläut am Dom auszurichten. „Die Neudisposition der Marienkapelle bildet in ihrer melodischen Weise die chromatische Ergänzung zur Tonfolge des Domes“, heißt das in der Sprache der Glockenfachleute.
Die sechs Glocken der Marienkapelle sind nach den Worten Engerts deshalb auch in „schwerer Schilling-Rippe“ hergestellt, in Anpassung an das Geläut des Kiliansdoms. Die größte Glocke mit einem Durchmesser von 1,20 Metern wiegt 1190 Kilogramm, die kleinste 240 Kilogramm. Die Namen der neuen Glocken sind Marientiteln der Lauretanischen Litanei entnommen. Sie heißen Königin des Friedens, Hilfe der Christen, Heil der Kranken, Zuflucht der Sünder, Trösterin der Betrübten und Rosenkranzkönigin. Letztgenannte Glocke stiftete die Rosenkranzbruderschaft der Marienkapelle. Stifter sind darüber hinaus Geschäftsleute aus dem Umfeld der Marienkapelle sowie Freunde und Förderer der Bürgerkirche am Markt. Namen der Stifter und der einzelnen Glocken sowie Reliefs der Marienbilder sind auf den neuen Glocken verewigt.
In den kommenden Tagen und Wochen werden die neuen Glocken auf Reise gehen. Die Würzburger Glocken erreichen am 29. April die Marienkapelle, die Glocke für Weibersbrunn wird ebenfalls in dieser Zeit im Spessart erwartet. Die drei Glocken für Bukarest werden in Rumänien rund um das orthodoxe Osterfest feierlich begrüßt und geweiht, das die Christen der Ostkirchen heuer erst am 5. Mai feiern. Den längsten Weg haben die drei Glocken für die neue, 7000 Menschen fassende Kirche in der Pfarrei Mashuyza im afrikanischen Ruanda vor sich. Über Graz, wo sie von den Elisabethinen als Stifterinnen der Glocken erwartet werden, geht es im Container nach Kenia und von dort in Ruandas Hauptstadt Kigali. 400 Kilometer Landweg liegen dann noch vor dem Geläut, ehe es in der Pfarrei Mashuyza in der Kirche „Mutter der Hoffnung“ erklingen wird. Der gemeinsame Guss, aber auch die besondere Verehrung der Gottesmutter mag dann die Gotteshäuser in Ruanda und am Würzburger Markt, aber letztlich auch die orthodoxe Kirche in Rumänien miteinander verbinden. Denn der Auftrag ist nach den Worten von Generalvikar Hillenbrand für alle Glocken gleichlautend: „Die Glocken sollen den Glauben verkünden und Zeugen davon sein, dass die frohe Botschaft auch heute die Menschen erreichen will.“
Aktuelles Lexikon: Geschichte der Glocken der Marienkapelle
Nach Angaben von Katja M. Engert, Glockensachverständige der Diözese Würzburg, bestand das Geläut des Hauptturmes der Marienkapelle in Würzburg vor der Zerstörung vom 16. März 1945 vermutlich noch aus vier Glocken. Insgesamt sechs Turmglocken zählt Engert von der ersten Glocke aus dem Jahr 1470 bis zur Marienglocke aus dem Jahr 1887. Die Glocken von 1625 und 1711 stehen heute im Museum Kartause Astheim. Die Kronen sind bei beiden Glocken abgebrochen. Darüber hinaus befand sich nach Angaben Engerts das Cyriakusglöckchen aus dem Jahr 1248 seit 1853 im seitlichen Treppenturm der Marienkapelle. Aus den Einzelteilen dieses ebenfalls 1945 zerstörten Glöckchens konnte 1971 eine neue Cyriakusglocke rekonstruiert werden. Sie rief in den vergangenen Jahrzehnten als einziges Glöckchen zu den Gottesdiensten in der Bürgerkirche am Markt.
Bild: Der Anstich ist erfolgt, der Glockenguss beginnt: Glockengießermeister Rudolf Perner und seine Meister und Gesellen gießen die Glocken für die Würzburger Marienkapelle. (Foto: Bernhard Schweßinger / POW)